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  • Warum wir ein „Autoplay“ für Nachrichten brauchen

    Warum wir ein „Autoplay“ für Nachrichten brauchen

    Der Aufbau unseres Mediensystems führt dazu, dass Menschen auch mit Nachrichten in Kontakt kommen – und das ist gut so. Die Abkehr vom linearen Medienkonsum bringt diesen Nachrichten-Grundkontakt allerdings ins Wanken.

    Als es noch möglich war, vor der Pandemie, verbrachte ich mit meiner Familie einen zweiwöchigen Urlaub in Florida. Wir rollten einige hundert Kilometer über Autobahnen, um Städte, Alligatoren und Muschelbänke zu erforschen. Bei einer dieser langen Autofahrten näherte sich der Minutenzeiger der Armaturenbrett-Uhr der zwölf. Und ich begann damit, auf dem UKW-Radio unseres Mietwagens einen Sender zu suchen, der zur vollen Stunde Nachrichten ausstrahlte. Ich suchte und suchte, die Minuten vergingen. Als es schon ein oder zwei Minuten nach der vollen Stunde war, gab ich auf: Ich fand keinen Sender unter der Vielzahl der Pop-, Country- und Talkstation in der Nähe von Miami, der mich verlässlich zur vollen Stunde mit Nachrichten versorgen würde. Die Musik lief einfach weiter. Das hat mich irritiert.

    Offensichtlich sind lineare Medien in den USA weitaus weniger reguliert als bei uns in Deutschland: Hierzulande bin ich es gewohnt, zur vollen Stunde Nachrichten zu hören – und bei der Suche auf der Frequenzskala auch zu finden. Fast alle Sender bieten News, nicht nur die öffentlich-rechtlichen. Landesmedienanstalten knüpfen ihre Frequenzvergabe für kommerzielle Sender an Programmstandards. Dazu gehört auch, dass terrestrisch oder über Kabel verbreitete Sender, wenn sie eine Frequenz ergattern wollen, eben Nachrichten anbieten sollten.

    Nachrichtenvermeidung erfordert aktives Handeln

    Und so ist es im Umkehrschluss in Deutschland auch verdammt schwer, keine Nachrichten zu hören: Wer im Auto auf dem Weg zur Arbeit oder morgens im Bad beim Duschen lineares Radio hört, stolpert zwangsläufig über Nachrichten. Wie der Bärenkopf im deutschen Silvester-Hit „Dinner for One“: Die Nachrichten liegen immer wieder im Weg, zu jeder vollen Stunde, und wer keinen Umweg nimmt, stolpert eben.

    Das heißt auch: Wer keine Nachrichten hören möchte, muss bewusst wegschalten. Zur Wahl stehen die wenigen Sender, die ihre Nachrichten schon fünf Minuten vor der vollen Stunde senden. Aber auch diese Stationen senden Nachrichten. Wer keine Informationen hören möchte, muss bewusst ausweichen, sonst rieseln sie in die Ohren wie Musik, Gewinnspiele und Werbung davor und danach. Nachrichtenvermeidung erfordert aktives Handeln. Der passive Mediennutzer ist gefangen im linearen Lauf des Tages.

    Das ist kein Zufall, es ist so gewollt: Als Politiker:innen unsere Rundfunkordnung entwarfen, setzten sie bewusst auf das Nebeneinander von Information und Unterhaltung. Im Medienstaatsvertrag, der aktuellen Entwicklungen wie der Digitalisierung mühsam hinterherhinkt, findet sich der Begriff des „Vollprogramms“. Und selbst in privaten Vollprogrammen müssen nach §25 „die bedeutsamen politischen, weltanschaulichen und gesellschaftlichen Kräfte und Gruppen (…) angemessen zu Wort kommen.“ Das Ziel ist Meinungsvielfalt, und die lässt sich nicht mit einem Musikteppich herstellen.

    Traumquoten dank Fußball

    Das Nebeneinander von Unterhaltung und Information funktioniert. Denn wenn zur Fußball-Europa- oder Weltmeisterschaft „Tagesthemen“ und „heute journal“ in der Halbzeitpause gekürzte Ausgaben ausstrahlen, ist dies keine Verlegenheitslösung: Die Chefs der Nachrichtenredaktionen freuen sich auf diese Quotenbringer. Und die Redaktionen passen ihre Planungen an und versuchen, das besonders große und heterogene Publikum bei der Themenauswahl im Hinterkopf zu haben. Denn die Millionen Fußballfans, die sich vor den Fernsehern versammelt haben, bleiben – trotz Pinkelpause – auch in der Halbzeit dran.

    „Wenn wir uns dieser Veränderung mit der Brille derjenigen nähern, die unsere Medienordnung schufen, um Meinungsvielfalt zu sichern, dann muss an dieser Stelle Regulierung dringend nachziehen.“

    Nachrichten erreichen auf diese Weise Traumquoten, bis zu 24 Millionen Menschen schauen solche Halbzeitnachrichten. Vielleicht holen die einen Bier, vielleicht unterhalten sich die anderen – im Kern „stolpern“ aber auch diese Fußballfans massenhaft über Nachrichten. Und das ist gut so, denn es trägt zu Information und Meinungsbildung bei. Nur so werden Nachrichten zum Smalltalk-Thema am Gartenzaun oder Partytalk beim Fußballabend – insbesondere dann, wenn sie gut, also zielgruppengerecht, produziert werden.

    Aus meiner Sicht haben wir es in Deutschland (und in anderen Länder Europas) richtig gemacht: Unsere Medienregulierung führt eben (auch) dazu, dass Nachrichten zum täglichen Medienmenü gehören, anders als in den USA, wo das National Public Radio (NPR) mit seinen alliierten Regionalstationen eher am Rande der Gesellschaft funkt, während die Mitte häufig von Nachrichtenangeboten nicht oder nur unzureichend erreicht wird. Allerdings: Auch in Deutschland geht die lineare Mediennutzung stetig zurück. Und damit sinkt eben auch die Chance, dass Menschen in Deutschland über Nachrichten stolpern. Die Fähigkeit zur informierten Meinungsbildung gerät in Gefahr – und damit unser demokratisches System.

    „Binge Watching“ als Geschäftsmodell

    Die Langzeitstudie „Massenkommunikation“ von ARD und ZDF, die seit den 60er Jahren Mediennutzung in Deutschland unter die Lupe nimmt, zeigt schon jetzt, dass in der Altersgruppe der 14- bis 29-jährigen 80 Prozent ihre Musik über Streaming-Plattformen wie YouTube und Spotify hören. Nur noch 68 Prozent nutzen daneben auch das Radio – Tendenz fallend. Derlei Beobachtungen und Studien gibt es viele – Mediennutzung verlagert sich auf nonlineare Kanäle, zu Lasten der linearen Ausstrahlung. In dieser Entwicklung liegen aus meiner Sicht viele Herausforderungen, derer sich Medienpolitik und Gesellschaft stellen sollten. Eine hat damit zu tun, dass Menschen in der Medienwelt von gestern über Nachrichten „stolperten“: Denn Streaming-Dienste wie Spotify, YouTube, Netflix oder Amazon Prime setzen alles daran, dass genau das nicht passiert.

    „Binge Watching“ ist das Geschäftsmodell der neuen Mediengiganten, Nutzer sollen möglichst lange dranbleiben. Nicht umsonst reicht der Countdown am Ende einer Serienfolge selten aus, um auf der Fernbedienung oder dem Handy rechtzeitig „Stopp“ zu drücken: „Die nächste Folge beginnt in 15 Sekunden.“ Die Streaming-Dienste setzen alles daran, Mediennutzung möglichst unterbrechungsfrei zu gestalten, länger und länger und länger.

    „Aus meiner Sicht haben wir es in Deutschland richtig gemacht: Unsere Medienregulierung führt eben (auch) dazu, dass Nachrichten zum täglichen Medienmenü gehören, anders als in den USA.“

    Das Ziel: Niemand soll ins Stolpern kommen. Bei Netflix, Spotify & Co. braucht es den aktiven Nutzer und die aktive Nutzerin, um den Stream der immergleichen Serien zu beenden. Und es braucht den aktiven Nutzer und die aktive Nutzerin, der oder die sich auf die Suche nach Nachrichten begibt.

    Dies ist der entscheidende Paradigmenwechsel in der Mediennutzung: In der linearen Medienwelt musste der- oder diejenige aktiv werden, der Nachrichten vermeiden wollte: Handeln, um keine News zu konsumieren. In der nonlinearen Welt braucht es den aktiven Nutzer, damit News konsumiert werden.

    Meinungsvielfalt und Informationsfreiheit in Gefahr

    Wenn wir uns dieser Veränderung mit der Brille derjenigen nähern, die unsere Medienordnung schufen, um Meinungsvielfalt zu sichern, dann muss an dieser Stelle Regulierung dringend nachziehen. Die Medienpolitik hat seinerzeit bewusst auf Vollprogramme gesetzt, um möglichst viele Menschen auch mit Information und vielfältiger Meinung zu erreichen. Und niemand wird der Feststellung widersprechen, dass Meinungsvielfalt und Informationsfreiheit heutzutage mehr denn je in Gefahr sind.

    Übrigens haben die, die auf linearen Kanälen in streng reguliertem Rahmen senden, egal ob öffentlich-rechtlich oder kommerziell, einen schwerwiegenden strategischen Nachteil: Sie müssen den Anforderungen an ein Vollprogramm genügen, während Netflix individuelle Medienkost in deutsche Haushalte liefern kann, die im Zweifel vollkommen frei von Informationen ist. RTL und ZDF müssen regelmäßig Nachrichten senden (und deren Produktion finanzieren), während Amazon Prime diese Pflicht nicht erfüllen muss.

    Mancher mag einwenden, dass auch Netflix hochwertige Dokumentationen und Spotify anspruchsvolle Podcasts fertigt. Das ist richtig. Nur wer sie schauen möchte, muss sie aktiv suchen. Hier liegt der feine, aber entscheidende Unterschied.

    Die Aktivisten der „Humane Technology“-Bewegung fordern, das Autoplay der nächsten Folge beim Serien-Streaming abzuschalten. Gegen Mediensucht und „Binge Watching“: Menschenfreundliche humane Technologie bedeute eben, im Design nicht jede mögliche Versuchung vorzusehen, sondern ebendiese möglichst zu vermeiden.

    Die Aktivisten einer meinungsvielfältigen Gesellschaft sollten entsprechend fordern, dass nonlineare Medien aktiv Nachrichten und Informationen anbieten müssen – quasi ein Autoplay für die Tagesschau. Die Nutzer*innen müssen auch bei nicht-linearen Plattformen ins Stolpern kommen. Sie müssen sich aktiv entscheiden und ihre Fernbedienung aus den Sofakissen bergen, ihre Handys von der Ladeschale nehmen und „Ich möchte keine Nachrichten schauen“ drücken, um Informationen zu vermeiden. So, wie sie in linearen Kanälen aktiv umschalten müssen, wenn sie keine News wünschen.

    Denkbar wäre, dass per Rundfunkbeitrag finanzierte Informationsinhalte allen Anbietern zur Verlinkung zur Verfügung stehen. Dann müssten Netflix, Spotify & Co. – auch, wenn sie es angesichts ihres kommerziellen Erfolges ohne Zweifel könnten – nicht in die teure Produktion von Nachrichten und Information einsteigen. Aber das sind Details. Wichtig ist das verpflichtende, regelmäßige Angebot: „Hier sind Deine Informationen.“ Oder: „Jetzt kommen die Nachrichten!“ Im übertragen Sinne müssen also auch in der nichtlinearen Welt die Bärenfelle von „Dinner for One“ ausgerollt werden, samt ihrer Köpfe: damit wir Nutzer*innen in der Rolle des Butlers immer wieder im besten Sinne über journalistischen Nachrichten und Informationen stolpern.

    Im Kern muss Medienregulierung also sicherstellen, dass Nachrichten weiter ihre Nutzer*innen finden. In dieser Richtung. Und nicht Nutzer*innen ihre Nachrichten aktiv suchen müssen.

    Die Zeit drängt. Denn schon heute lassen wir weltweit soziale Netzwerke wie Facebook und Twitter agieren, die ausschließlich kommerziellen Entscheidungen folgen. Wie sie Wahlen und andere demokratische Prozesse beeinflussen, ist spätestens seit der Randale im US-Kapitol deutlich geworden. Wenn lineare Medien, in denen Informationen noch ihren Platz haben, gleichzeitig an Bedeutung verlieren und Regulierung ihnen in den nonlinearen Medien diesen Platz nicht zuweist, wird unsere Demokratie es schwer haben.

    Dieser Beitrag ist in einer Kooperation von Vocer und dem journalist entstanden. Der Beitrag wird in dem Buch „Wie wir den Journalismus widerstandfähiger machen“ erscheinen. Herausgeber sind Vocer-Mitgründer Stephan Weichert und journalist-Chefredakteur Matthias Daniel.

  • Wider die Digitale Diktatur: „Freie Informationen sind das Rohöl einer lebendigen Demokratie“

    Wider die Digitale Diktatur: „Freie Informationen sind das Rohöl einer lebendigen Demokratie“

    Es ist paradox: Noch nie war es so einfach, seine Meinung zu äußern dank unzähliger Plattformen und Kanäle. Noch nie aber entschieden auch so wenige Menschen über die Regeln dieser Plattformen. Noch nie war die vor allem für unsere Demokratien entscheidende freie Meinungsbildung damit derart in Gefahr. Und noch nie waren die Zeichen, dies zu erkennen, so offensichtlich. Und trotzdem tun wir nichts. Wie kann das sein? Es ist Zeit für einen wütenden Aufschrei. Wir müssen handeln!

    Dabei ist das, was ich schreibe, banal, wenig originell oder überraschend. Aber dennoch tun wir nichts. Das, was ich schreibe, ist zudem hier und da oberflächlich und zugespitzt – aber Differenzierung hilft nicht mehr.

    Collage mit Verwendung von Pexels/Suzy Hazelwood/1098515

    Was ist das Problem?

    Drei Dinge passieren in diesen Tagen parallel:

    Erstens führt uns Elon Musk vor, was passiert, wenn ein Mensch mit viel Geld (oder anderen Machtinstrumenten) beabsichtigt, eine Debatten-Plattform nach seinem Gusto zu verändern. Ob er Twitter nun kauft (oder gekauft hat), ob er dort in den Aufsichtsrat einzieht (oder es schon wieder abgelehnt hat), ist fast egal: Das, was Musk in diesen Tagen betreibt, zeigt uns, wie anfällig die Organisationsstrukturen der großen Plattformen für Einfluss von außen sind. Nach dem Motto: Was mir nicht gefällt, das ändere ich. Was meinem Verständnis von freier Debatte widerspricht, ändere ich – unabhängig davon, ob ein gesellschaftlicher Konsens das ganz anders sehen würde.

    Es geht nicht nur um Twitter. Dasselbe gilt für Meta (mit Facebook, Instagram, Whatsapp und erheblichen Marktanteilen an VR-Plattformen), für Google, Amazon, Spotify, LinkedIn, Snapchat und TikTok: Ausschließlich dem einen Zweck – möglichst großem Gewinn – verpflichtete internationale Konzerne bestimmen zunehmend die Meinungsbildung, zumindest in den „westlichen“ Demokratien.

    Zweitens lernen wir in diesen Tagen, was Abhängigkeit bedeutet: Deutschland wusste, dass es abhängig ist von russischen Öl- und Gaslieferungen. Nun versucht es, sich aus dieser einseitigen Abhängigkeit zu befreien. Und der öffentliche Diskurs markiert deutlich: Abhängigkeit von einem Anbieter bei lebenswichtigen Gütern ist gefährlich, schränkt die Handlungsfähigkeit eines Staates ein.

    Wie steht es aber um das immaterielle Gut unabhängiger Informationen? Wissen wir hier nicht auch um unsere Abhängigkeit von einigen wenigen Akteuren – in diesem Fall nicht Staaten, sondern Plattformen? Trotzdem nehmen wir sie erst einmal hin. Dabei ist freie Information das Rohöl einer lebendigen Demokratie.

    Drittens führt uns der Krieg in der Ukraine genau das vor: wie entscheidend, wie geradezu lebenswichtig unabhängige Informationen sind. In diesem Zusammenhang aber gelingt es dem Konzern Meta sogar, im der öffentlichen Wahrnehmung Boden gut zu machen: Russland hat die Plattformen Facebook und Instagram als „extremistische Organisationen“ verboten. Die freie Welt jubelte auf und klopfte Marc Zuckerberg auf die Schultern dafür, dass er sich auf die „richtige“ Seite geschlagen habe (beispielsweise hier). Meta entschied sich sogar dafür, in einigen Ländern Aufrufe zu Gewalt gegen Vladimir Putin und russische Soldaten, sogar Todesdrohungen, zu erlauben. Wäre diese Entscheidung anders herum ausgefallen, hätte Meta Todesdrohungen gegen den ukrainischen Präsident erlaubt – der weltweite Aufschrei wäre riesig gewesen. Ja, Meta hat aus meiner Sicht in diesem Fall moralisch richtig gehandelt.

    Das Frappierende ist doch, dass der Konzern Meta sich allein entscheidet, auf welche „Seite“ er sich schlägt. „Allein“ heißt in diesem Fall: ohne jegliche öffentliche Aufsicht. Ohne ernstzunehmende Konsultation mit einer Öffentlichkeit (das Facebook Oversight Board ist nur Augenwischerei ohne bindende Wirkung).

    „Allein“ heisst, dass sozial auffällige Ex-Teenager wie Elon Musk oder Marc Zuckerberg entscheiden, wie die Meinungsbildung in der westlichen Welt läuft. Oder eben chinesische Oligarchen (bei TikTok), die an der Kandare des Regimes in Peking Unabhängigkeit vorspielen, aber kuschen, sobald der Staats- und Parteiapparat zuckt.

    Es gibt so viele deutliche Zeichen für das, was da passiert: neben der Ukraine oder den Geschehnissen bei Twitter auch der Skandal um Cambridge Analytica mit massivem Einfluss auf den US-Wahlkampf oder den Brexit. Zuletzt die massive Kampagne Russlands, die TikTok-Creator auf Spur brachte und Millionen Nutzer*innen Moskaus Propaganda ausspielte.

    Was bedeutet das?

    Wir sind nur wenige Schritte davon entfernt, dass alternative Medien, neben den großen Plattformen, ihr Publikum nicht mehr erreichen, dass Facebook, TikTok & Co. unsere Meinungsbildung beherrschen. Wir sind nur wenige Schritte davon entfernt, dass Einzelne intransparent entscheiden, was wir lesen und damit wissen dürfen, unterstützt von Algorithmen, die mehrheitlich von weißen, gut verdienenden Männern programmiert werden (der Bias von Algorithmen ist ein weiteres, komplexes Thema, auf das hier nicht näher eingegangen werden soll).

    Aber wollen wir weißen, sozial auffälligen Männern, chinesischen Diktatoren und voreingenommenen Algorithmen wirklich die Entscheidung darüber überlassen, was wir denken? Die millionenfach das verbreiten, was polarisiert und Gesellschaft spaltet? Die alles daran setzen, global Meinung zu beherrschen, weil dann ihre Kasse klingelt?

    „Digitale Diktatur“ scheint als Teufel an der Wand etwas weit gegriffen. Wenn eine „Diktatur“ aber als Herrschaftsform verstanden wird, die sich durch eine einzelne regierende Person, den Diktator, oder eine regierende Gruppe von Personen (z. B. Partei, Militärjunta, Familie oder die Führungsriege einer monopolistischen Plattform) mit weitreichender bis unbeschränkter politischer Macht auszeichnet, dann sind wir nicht so weit davon entfernt. Was wäre, wenn sich Meta auf Putins Seite geschlagen hätte? Was wäre, wenn ein größenwahnsinniger amerikanischer Präsident die Konzerne in seinem Land und damit Meinung gleichschaltete? Mir fiele mindestens ein Kandidat ein, dem ich das zutrauen würde.

    Wie war das nochmal mit der Meinungsvielfalt?

    Warum haben wir uns in Deutschland ein kompliziertes Mediensystem mit zahlreichen Checks & Balances geleistet? Im öffentlich-rechtlichen Rundfunk mit Rundfunkräten, dezidierter Staatsferne, föderal organisiert und über einen „Beitrag“ – und eben keine Steuer – finanziert? Mit Landesmedienanstalten, die privaten Rundfunk beaufsichtigen? Ein System, das in vielen unserer Nachbarländer Vorbilder gefunden hat und seit dem 2. Weltkrieg ähnlich organisiert ist? Warum sind beispielsweise Verlage außenplural organisiert, warum ist das Bundeskartellamt mit besonderer Kompetenz und strengeren Regeln als bei reinen Wirtschaftsunternehmen für die Fusionskontrolle im Medienbereich zuständig?

    Weil wir überzeugt davon waren, dass die freie Meinungsäußerung zu schützen ist. Weil wir überzeugt davon waren, dass nicht zu viel Meinungsmacht in der Hand weniger konzentriert sein darf. Gilt das etwa nur in der analogen und linearen Welt, für gedruckte Zeitungen und Rundfunk über Antenne? Wie kann es sein, dass wir Übernahmen im Verlagssektor untersagen, während internationale Konzerne munter Meinungsmonopole zimmern? Meta wäre in Deutschland mutmaßlich zerschlagen worden, wenn es den Regeln linearer Medienkonzerne hätte gehorchen müssen.

    Ist digitale Meinungsvielfalt weniger Wert als lineare? Ist sie nicht ebenso schützenswert? Warum werfen wir in der digitalen Welt die Werte über den Haufen, die wir in der linearen Medienwelt verteidigen?

    Und was tun wir?

    Wir zucken mit den Schultern, nutzen weiter die Familien-, Kindergarten- und Schul-Whatsapp-Gruppe („auf Signal fehlen ja drei Mitglieder“), teilen mit Opa und Oma auf Facebook Urlaubsbilder und sonnen uns auf Instagram. Unsere Kinder sind auf TikTok unterwegs, der meist unterschätzen (weil Erwachsenen weitgehend unbekannten) Plattformen und sehen dort vor allem Corona-Kritik, Kriegspropaganda und falsche Schönheitsideale.

    „Den Kopf in den Sand zu stecken“ bedeutet in der digitalen Welt, den Kopf gesenkt hinter unseren Handyscreens zu verstecken. Statt mit unseren Kindern zu lachen, verbringen wir Stunden damit, unsere Nutzungsdaten ins Silicon Valley zu beamen. Statt aufzustehen und zu handeln, sind wir das denkbar schlechteste Vorbild für reflektiertes Mediennutzungsverhalten, individuell wie auf gesellschaftlicher Ebene.

    Denn die, die Politik und Medien gestalten, verweisen bequem auf den „Too Big To Fail“-Unsinn. Erinnert sich jemand an Myspace? Gibt´s nicht mehr. Das Römische Reich übrigens auch nicht. Plattformen können auch eingehen, wenn ihnen die Nutzer*innen weglaufen. Nur tun wir kaum etwas dafür, die großen Plattformen heute zu schwächen, im Gegenteil.

    Wir beschäftigen uns mit „Rückleitungsstrategien“, das heisst: Erst einmal veröffentlichen Verlage und Sender ihre kostbaren Inhalte auf Facebook, Youtube, TikTok & Co., um im zweiten Schritt zu versuchen, Nutzer wieder in Mediatheken und eigene Angebote zu lotsen. Das Kind ist so tief im Brunnen, dass wir manche Nutzer*innen anders auch nicht mehr erreichen würden.

    Was wir aber eigentlich tun: Wir stärken mit unseren Inhalten weiter die, die unsere Werte verachten. Wir stärken mit Erklärvideos, abgewogener Diskussion und konstruktivem Journalismus die Konzerne, die verwirren, polarisieren und zerstören. Solange Menschen unsere Angebote auf polarisierenden, demokratiefeindlichen Plattformen finden, werden sie sie auch weiter nutzen.

    Wir Medien stecken die Fördermittel ein, mit denen uns Google´s „Digital News Initiative“ und das „Facebook Journalism Programme“ locken. Geld, das die Plattformen auch verdient haben, weil sie die klassischen Medien fortwährend schwächen. Diese angeblichen Förderprogramme sind an Zynismus nicht zu überbieten: Diejenigen, die klassische Medien zerstören, gewähren großzügig lebensverlängernde Finanzspritzen. Und wer auf Zitate von Menschen wie Nick Clegg verweist, dem „President for Global Affairs“ bei Meta, der verständnisvoll und differenziert versucht, sein Unternehmen freundlicher wirken zu lassen, dem sei gesagt: Das ist alles Schein, höchstens good-will, aber ohne jede belastbare Basis dafür, dass sein Konzern sich nicht auf die „andere“ Seite schlägt, wenn es Spitz auf Knopf steht. Marc Zuckerberg hat jede Vorkehrung getroffen, dass auch seine Nachfahren das Sagen im Konzern haben – und kein „President Of Global Affairs“ oder „Oversight Board“. Sie alle agieren nur nach Zuckerbergs Gnaden.

    Was müssen wir tun?

    Wir – jeder einzelne – müssen uns heute von WhatsApp abmelden und Alternativen nutzen.

    Wir müssen uns von Facebook und Instagram abmelden und unsere Kinder überzeugen, TikTok den Rücken zu kehren.

    Wir müssen die stille Macht von Spotify über die Musik, die wir lieben, und das Wort, dem wir lauschen, in Podcasts hinterfragen und Alternativen stärken.

    Wir müssen damit jetzt anfangen, bevor es zu spät ist.

    Wir müssen die bestehenden Plattformen schwächen, indem wir unsere Inhalte dort nach und nach nicht mehr veröffentlichen.

    Wir müssen alternative Plattformen stärken: Es gibt sie ja! Beispielsweise die öffentlich-rechtlichen Mediatheken, oder die der Privatsender, die endlich über eine Zusammenarbeit sprechen! Oder Internet-Nischen wie piqed, DuckDuckGo, Qwant (vom Springer-Konzern) – oder die Produkte der Mozilla Foundation.

    Das bedeutet auch: Wir müssen alternative Finanzierungsmodelle – Bezahlung und Werbung – für Medien und die Creator-Economy entwickeln. Denn nur, wenn ein alternatives Ökosystem auch Einkommen sichert, wird es stark genug sein, um zu bestehen.

    Wenn wir nicht damit beginnen, ein alternatives Plattform-System zu bauen, gibt es auch keine digitalen Orte, an denen wir uns statt auf Facebook, Youtube und TikTok treffen können. Wir brauchen diese Orte aber, spätestens dann, wenn Medienpolitik die großen Plattformen einschränkt.

    Dieser Text ist nicht der richtige Ort, um die Struktur dieser alternativen Plattformen zu entwerfen (damit beschäftigen sich Initiativen wie beyondplatforms.) Aber wir müssen damit beginnen, ins Gespräch kommen, und schnell aufbauen, ausprobieren, Erfahrungen sammeln.

    Wir müssen gemeinsam handeln – öffentlich-rechtlicher und privater Rundfunk, Zeitungs- und Zeitschriftenverlage genauso wie diejenigen, die digital hochwertige Inhalte produzieren (ob wir sie nun Content Creator oder Journalisten nennen). Während öffentlich-rechtliche Sender und Verlage ihre immerwährende Fehde über Onlineinhalte ausfechten und sich gegenseitig schwächen, ziehen die Plattformen als lachende Dritte an beiden vorbei.

    Wir müssen unsere Medienpolitik reformieren und handlungsfähig machen: Oft sind wir im Medien-Föderalismus noch nicht einmal in der Lage, national handeln (siehe der Streit um den Rundfunkbeitrag oder die anachronistischen Regeln der Medienaufsicht). Wir beschränken uns darauf, einen Teil der Meinungsmaschine zu regulieren – nämlich den, der in Deutschland greifbar ist. Damit benachteiligen wir Verlage und Sender in Deutschland gegenüber internationalen Plattformen, die dagegen quasi unreguliert Inhalte verbreiten.

    Medienpolitik muss Meinungsvielfalt sichern – beispielsweise, in dem Algorithmen veröffentlicht werden müssen und demokratisch legitimierte Gremien die Inhalte der Plattformen beaufsichtigen. Vermutlich muss Medienpolitik auch entflechten (also enteignen), wenn eine Plattform in einem Publikumssegment zu große Meinungsmacht auf sich konzentriert. Sie muss den Zugang blockieren, wenn strafbare Inhalte nicht gelöscht werden (Telegram hat gerade noch die Kurve bekommen).

    Wie einflussreich und mächtig die großen Plattformen sind, sehen wir Tag für Tag. Es ist Zeit zu handeln, Zeit, die Meinungsvielfalt und damit unsere Demokratien zu verteidigen und den Einfluss der großen Plattformen entschieden zurückzudrängen.

    Geschichte fragt rückblickend immer auch: Und was hast Du getan? Wir können nicht sagen, dass wir nicht gewusst haben, wie groß die Gefahr für unsere Demokratien ist. Wenn die großen Plattformen weiter erstarken – und das ist ohne jeden Zweifel ihr Ziel! -, dann ist der Weg zur Digitale Diktatur nicht weit.

  • Let´s not talk about #Kulturwandel!

    Let´s not talk about #Kulturwandel!

    Das Wort „Kulturwandel“ fasst manche Führungskraft nur mit spitzen Fingern an, und viele Mitarbeitende wissen auch nicht so recht, worum es bei diesem „Kulturwandel“ eigentlich gehen könnte. Sie spüren: In meinem Unternehmen muss sich etwas verändern, aber was genau? Ist dieses Wort – „Kulturwandel“ – vielleicht schon verbrannt? Und was könnten wir stattdessen nutzen?

    Denn: „Kulturwandel“ beschreibt auf der einen Seite einen tiefgreifenden, fortwährenden Prozess, der Ressourcen braucht und wie kaum ein anderer tief in die DNA eines Unternehmens eingreift. „Kulturwandel“ ist der eine Prozess, bei dem in der Transformation eines Unternehmens auch die Führungsebene mitspielen muss: ein neues Verständnis von Führung – Fragen stellen statt alles wissen, Teams diverser aufstellen und ermächtigen, auch selbst Entscheidungen zu treffen, delegieren und vertrauen – neue Strukturen, neue Organisationsformen. „Kulturwandel“ ist die Voraussetzung für erfolgreiche Innovationen. In seinem Innovations-Zine schreibt Johannes Klingebiel: „Wenn eine Innovation erfolgreich sein soll, benötigt sie immer einen gleichzeitigen Strukturwandel.“ Er zitiert in diesem Zusammenhang aus Dan Hills „Dark Matter and Trojan Horses“-Buch: „You can‘t design a transformative service, without redesigning the organisation.“

    Auf der anderen Seite ist „Kulturwandel“ ein wachsweicher Begriff, der beliebig interpretiert und als Handlung wegdelegiert werden kann, nach dem Motto: „Ach, und diesen Kulturwandel, den machen Sie nun alle, liebe Mitarbeitende“. Das Phantom „Kulturwandel“, das Hoffnung auf Veränderung (oder Angst vor ebendieser) macht, aber nicht wirklich greifbar oder messbar ist. Wandel um des Wandels willen – der „Kulturwandel“ stellt sich selbst ein Bein, weil er wie ein Pudding nicht halten will an der Wand.

    Vielleicht sollten wir den nötigen Prozess daher anders beschreiben, nämlich, indem wir ihn nach seinem Ziel benennen. Aber was ist das Ziel eines Kulturwandels? Darüber kann man sicher lang und trefflich akademisch debattieren. Für mich zielt ein Kulturwandel letztendlich auf eine Unternehmenskultur und -struktur, die es erlaubt, weiterhin erfolgreich am Markt zu agieren. In der komplexen, volatilen, unsicheren VUCA-Welt bedeutet das, auf unbekannte Herausforderungen schnell und adäquat reagieren zu können.

    Also: Ein Kulturwandel findet (nicht nur, aber vor allem) innerhalb eines Unternehmens statt – das aber nur, damit Herausforderungen von außen bewältigt werden können. Insofern geht es aus meiner Sicht beim Kulturwandel eigentlich darum, in etwa den Zustand zu erreichen, der mit Blick auf Individuen als „Kulturelle Intelligenz“ beschrieben wird: „Kulturelle Intelligenz“ ist die (scheinbar natürliche) Fähigkeit, auf Unbekanntes und Ambivalentes treffend zu reagieren. (zitiert nach Harvard Business Review).

    Während die „kulturelle Intelligenz“ des Einzelnen vor allem im Kontakt mit „unbekannten Kulturen“ zum Tragen kommt, beschreibt die kulturelle Intelligenz eines Unternehmens für mich die Fähigkeit, die Unternehmenskultur dem unbekannten, ambivalenten und wechselhaften Wesen der disruptiven Gesellschaft „da draußen“ so anzupassen, dass im Unternehmen erfolgreiche Innovation und Transformation gelingen. Nicht einmal, sondern immer wieder. Damit kein Missverständnis aufkommt: „Kulturelle Intelligenz“ braucht zum Verständnis einen weiten Kulturbegriff, weil es auch um die Anpassungsfähigkeit an soziale, ökonomische und technologische Veränderungen geht.

    „Kulturwandel“ ist ziellos. „Kulturelle Intelligenz“ beschreibt dieses Ziel. Eine Klarstellung, die aus meiner Sicht wichtig ist, um den notwendigen Wandel in Fahrt zu bringen. Let´s not talk about Kulturwandel.

  • Warum Innovation hakt

    Warum Innovation hakt

    Warum hakt Innovation? Weil Medienunternehmen sich Innovation oft nur da zutrauen, wo sie leicht fällt. Möglicherweise banal – aber weit verbreitet:

    🟢 Neue Produkte zu entwickeln, funktioniert oft noch ganz gut: mit einem Entwicklungsetat (also begrenztem zusätzlichem Geld) oder Engagement, mit wilden Ideen, Laboren und „irgendwie“ – oder gar strukturierten Prozessen (🟡) entsteht zum Beispiel der neue Instagram-Auftritt oder der Daten-Bot zur Corona-Lage.

    🟡 Was uns schon etwas seltener gelingt, ist dafür auch Workflows zu verändern und neue #Methoden auszuprobieren. Einige Folgen:
    – Produkte sind erfolglos, zum Beispiel, weil wir wieder nicht mit den Nutzer*innen gesprochen haben (Methoden).
    – Auch gute Produkte sterben, weil es keine Ressourcen für die Fortsetzung im „Regelgeschäft“ gibt – weil wir das Regelgeschäft (Workflows) nicht ändern, zum Beispiel nicht verzichten. (Es sei denn, wir verdichten Arbeit so lange, bis Menschen ächzen oder krank werden.)

    🔴 Die Ursache auch dafür liegt nach meiner Wahrnehmung oftmals darin, dass Unternehmen die #strukturelle Innovation der Organisation (Transformation) nicht angehen: Kulturwandel, neues Führungsverständnis, veränderte Aufsichtsgremien (und einiges mehr, wie Organisationsstruktur, Honorarsysteme, Finanzordnungen etc.) – bis hin zu Diversität auch in Gremien.
    Warum? Weil dieses Brett das dickste ist, aufwändig. Und weil bei diesem Thema auch Chefs sich und ihre Arbeit ändern müssen. Kulturwandel braucht Ressourcen, Prozess, das Commitment der Führungsebene.

    Dauerhaft werden 🟡 und 🟢 nur funktionieren, wenn Unternehmen auch dieses Thema 🔴 angehen. Wenn nicht, wird es anstrengend, vor allem für Mitarbeiter*innen, von denen „Innovation“ erwartet wird – die sich in innovationsaversen Strukturen aber aufreiben.

  • Das „Möchtegern-Unternehmen“

    Das „Möchtegern-Unternehmen“

    Im Zuge eines vermeintlichen Kulturwandels werden manche Unternehmen zu „Möchtgern-Unternehmen„: Sie geben vor, etwas anderes zu sein als sie sind. Die Folgen spüren vor allem die Mitarbeitenden. Wie das (und was genau) passiert?

    Kaum ein Prozess wird in Unternehmen mehr unterschätzt als ein nachhaltiger Kulturwandel: Er braucht Ressourcen, er braucht Zeit und das Commitment (auch) der obersten Führungsebene. Uff. Mancher wünscht sich da (zu recht): Wenn wir nur schon weiter wären!

    Schafft es dieser Wunsch, die Kommunikation im Unternehmen zu verändern, kann ein Problem entstehen: Obwohl das Unternehmen den Kulturwandel (noch) nicht ernsthaft betreibt, klingen durch Meetings und Strategien schon manche Buzzwords. Es wird gesagt, das Unternehmen sei jetzt schon „agil„, man arbeite in flachen Hierarchien. Die Fehlerkultur habe sich bereits geändert – jeder dürfe ausprobieren und Fehler machen. Und so weiter.

    Einzig: Das Unternehmen steht bei diesen Themen eben noch auf dem Startblock. Die Worte sind nur eine Ankündigung. Würden sie als solche markiert, würden sie einen Weg beschreiben, wäre das aus meiner Sicht prima. Oft genug wird der Prozess selbst aber als zu hohe Hürde empfunden, ob bewusst oder unbewusst. Manche Führungskraft wählt die Verkündung von „Agilität“ und „flachen Hierarchien“ dann als Ausweg, als Beginn und Schlusspunkt gleichermaßen. Das Unternehmen wird so unterschwellig zum „Möchtegern-Unternehmen„, weil es vorgibt, eine andere Unternehmenskultur zu leben als die, die real existiert. Das geschieht vermutlich oft unbewusst, mit guten Intentionen. Aber „gut gemeint“ ist manchmal leider nicht gleich „gut gemacht“.

    Ein Beispiel: Kürzlich durfte ich einer unternehmensweiten Schalte lauschen, in der eine Unternehmensleitung den durchaus eindrucksvollen neuen Prozess für strategiegetriebene Produktinnovation vorstellte. Der CEO sagte in einem Nebensatz: „Dies ist ein echter Kulturwandel“. Hier liegt für mich das Missverständnis: Denn der Prozess zur Produktinnovation kann allenfalls ein Element des Kulturwandels sein. Vermutlich hängt sein Erfolg davon ab, dass der Kulturwandel nachhaltig auch Organisationsstruktur, Führungsverständnis und Workflows transformiert.

    Was sind die Folgen dieses Missverständnisses? Aus meiner Sicht verlieren die Mitarbeitenden (Vorgesetzte eingeschlossen) wichtige Orientierung: Als das Unternehmen noch streng hierarchisch nach Wasserfall geführt wurde und auch niemand etwas anderes sagte, wussten alle, woran sie waren. Nun hören sie, alles sei bereits anders – sie spüren aber, dass dies nicht so ist. Auf den Schultern der Mitarbeitenden lastet die Erwartung, dass sie „anders“, modern und agil arbeiten, ohne, dass sie Unterstützung durch veränderte Prozesse und Strukturen – durch eine Transformation des Unternehmens – erfahren.

    Der gemeinsame Change Prozess fehlt, in dem Sorgen, Ideen zur Sprache kommen, in dem Ziele erklärt und mit Leben gefüllt werden. Denn der „Prozess“ gilt (unterbewusst) bereits als „abgeschlossen“ – etwas unzulässig zugespitzt wäre dies „Agilität per Dekret“.

    Das verwirrt und verunsichert. Es ermüdet, weil Mitarbeitende viel Energie und Hoffnung in eine neue Haltung investieren, die aber keine Entsprechung im Unternehmen findet. Und auch die Unternehmensführung macht es sich schwer, weil die Erwartungen an die Kultur steigen – und damit möglicherweise auch die Enttäuschung wächst angesichts der realen Umstände.

  • Werkzeugkasten für Transformation: Erfahrungen aus einem Projekt

    Werkzeugkasten für Transformation: Erfahrungen aus einem Projekt

    Zwischen 2017 und 2021 habe ich einen großen Veränderungsprozess geleitet und gestaltet. Die Herausforderung: Wir haben eine neue Heimat für eine regionale, öffentlich-rechtliche Medienmarke geschaffen, neuer, umgebauter Newsrooms, inklusive neuer Workflows, und mit rund 350 Beteiligten Kolleg*innen. Wir haben unsere Informations- und Nachrichtenredaktionen von zwei Standorten und aus drei Gebäuden zusammengebracht, um künftig themenzentriert, crossmedial zu arbeiten. Unser Ziel: Mit Nachrichten und Hintergründen trotz absehbar sinkender linearer Verbreitung auch künftig die Menschen zu erreichen – in der Sprache, mit den Produkten, auf den Kanälen, die sie nutzen.

    Wir haben den Prozess gestartet – und wollen ihn im Idealfall nie beenden. Dennoch lässt sich heute rückblickend manches lernen: Wir haben gute Fehler gemacht und auch manches gleich richtig. Viele Kolleg*innen haben an diesem Prozess mitgearbeitet, viele standen mit Rat und Tat zur Seite – von außen wie innerhalb des Unternehmens.

    Welche Tools, Ideen und Kniffe – und welche Haltung haben uns auf diesem Weg geholfen? Manches Detail ist sicher spezifisch für diesen Veränderungsprozess. Andere lassen sich gut auf andere Unternehmen oder sogar Branchen übertragen. In den folgenden Absätzen habe ich die wichtigsten zusammengefasst.

    (Die einzelnen Beiträge lassen sich ausklappen.)